- Sonntag der Osterzeit, 10.05.2015 – Zum Evangelium nach Johannes 15, 9-17
Liebt einander.
Was für ein Auftrag. Nur zwei Worte – aber welche Tragweite!
Wer bei einem Schneider einen Anzug bestellt, wird abgemessen. Man fragt nach dem gewünschten Stoff, sucht das Futter aus, wählt die Knöpfe sowie die Art und Menge der Taschen. Man bestimmt die Schlitze und die Ziernähte. Vielleicht noch eine Weste dazu, mit runden oder spitzen Enden? Soll die Hose hinten Taschen haben, eine oder zwei, sollen sie mit einem Knopf oder Reißverschluss geschlossen werden können? Hier geht es um ein Kleidungsstück, welches viele Menschen nur ganz selten anziehen.
Und zwei Worte sollen für alle Menschen ausreichen? Nicht für ein paar Stunden am Tag, sondern für das ganze Leben?
Auf den ersten Blick klingt das wie eine Utopie. Doch letztlich ist der Jahrtausende alte Dekalog, also die zehn Gebote, auch nur ein ganz kurzer Text und zugleich eine brauchbare Gesellschaftsgrundregel. Wenn man die zehn Gebote zusammenfassen sollte, sehr wahrscheinlich kommt genau das dabei heraus: Liebt einander. Wer bedingungslos liebt, kommt gar nicht auf die Idee, einen anderen zu betrügen, ihm etwas wegzunehmen oder gar zu töten. Ein solcher Mensch kommt auch nicht auf den Gedanken, andere Menschen mit dem Töten zu beauftragen. Sei es für die Interessen eines Landes, einer Gruppe von Menschen oder die vermeintlichen Interessen eines religiösen Verständnisses.
Aber – wir sind Menschen. Überall auf der Welt gibt es Ungerechtigkeiten, Tötungen und sonstige Beweise dafür, dass die Liebe fehlt. Im Vergleich zu anderen Teilen der Welt leben wir in Deutschland verhältnismäßig sicher, was Tötungen angeht. Aber auch hier gibt es Mobbing, Neid, Betrug, Diebstahl und das Fehlen von Zuneigung gegenüber Menschen, die ihrer dringend bedürfen. Das, was hierzulande zu häufig stirbt, ist vielleicht nicht der Mensch, aber seine Würde. Ach, das, was ganz vorne im Grundgesetz steht. Kurz nach der Einleitung, die ganz offiziell keine gesetzliche Bindungswirkung entfaltet, diese Formulierung „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“.
Ganz offenbar haben wir die Lust daran entwickelt, viele Worte über das zu verlieren, was für Gott und sein Verhältnis zu uns sowie für sein Verhältnis zwischen den Menschen gänzlich unwichtig ist. Deutschland ist ein Land, welches für seine Regelungswut und Gesetzesfülle bekannt ist. Können Sie sich ein Regal vorstellen, in dem alle Gesetze und Verordnungen dieses Landes stehen? Glückwunsch zu Ihrer Phantasie. Aber jetzt stellen Sie sich jemanden vor, der alle diese Texte aus dem Regal nimmt und zum Altpapier gibt. Stattdessen legt er einen kleinen Zettel ins Regal. Darauf steht nur „Liebt einander.“ Reichen würde es.
Ihnen wünsche ich, dass Ihnen an jedem Tag jemand begegnet, der sich diese beiden Worte zum Programm gemacht hat.
Tim Wollenhaupt
Die Rubrik Impuls zum Sonntag – gibt Frauen und Männern aus unserer Gemeinde die Möglichkeit, ihrem priesterlichen und prophetischen Auftrag Ausdruck zu verleihen. An dieser Stelle finden Sie in jeder Woche neu persönliche Gedanken zum Evangelium des jeweiligen Sonntags – individuelle Lebens-und Glaubenszeugnisse von Menschen, die versuchen, ihr Leben aus der Kraft der Taufe anzunehmen und zu gestalten.