4. Sonntag der Osterzeit, 08.05.2022
Zum Evangelium nach Johannes, 10, 27 – 30
27 Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. 28 Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen. 29 Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. 30 Ich und der Vater sind eins.
Jesus hat es nicht leicht. Wenn man die Passagen rund um diesen kurzen Evangeliumstext liest, erkennt man schnell, in welcher Situation Jesus ist: Die Juden glauben ihm nicht, dass er Gottes Sohn ist, obwohl er – wie wir es heute nennen – Wunder wirkte, die weit über das irdische Vermögen gehen. Die Juden aber, denen dergleichen noch nicht begegnet ist, reagieren zornig: Das kann kein Sohn Gottes sein, wenn er es dennoch behauptet, dann macht er sich der Gotteslästerung schuldig.
Immer wieder gab es Menschen, die sich für die Heilung erkrankter anderer Menschen eingesetzt haben. In die jüngere Vergangenheit fallen eine Vielzahl von Therapien gegen schwerste Erkrankungen, die erste Herztransplantation und nicht zuletzt die Entwicklung von Impfstoffen gegen die unterschiedlichen Mutationsformen des Coronavirus, der uns seit einigen Monaten zur Verfügung steht. Mit der gesetzlichen Überzeugung der damaligen geistlichen Führer müssten wir all diesen Menschen in Medizin und Forschung sagen: Ihr lästert Gott, denn ihr strebt danach, das vorgegebene Schicksal zu durchkreuzen.
Doch steinigen wir heute Medizinerinnen und Mediziner? Wenn man nicht allzu quer denkt, eher nicht. Stellen wir Forscherinnen und Forscher vor Gericht? Nein, eher vor den Bundespräsidenten, damit er sie mit den höchsten Orden auszeichnet. Und das, obwohl diese Menschen eher ihre Wissenschaft anwenden. Als wunderbar kann man das Ergebnis bezeichnen, als Wunder selbst allerdings kann das Ergebnis kaum gelten. Auch unsere besten Fachleute wären nicht in der Lage, den verstorbenen Lazarus allein durch ihre Stimme zum Leben zu erwecken oder tausende Menschen mit einem Korb voller Brot zu sättigen.
Wie groß muss ein Wunder sein, damit wir begreifen? Das erste Detail, welches wir begreifen, ist die Feststellung, dass wir Wunder nicht begreifen können. Weil das, was Jesus gewirkt und bewirkt hat, über das Menschenmögliche hinausgeht. Mir persönlich hilft es sehr, wenn Jesus dann sagt: Ich kenne sie, meine Schafe. Natürlich will ich mich intelligenter finden als ein Schaf. Natürlich will ich mehr sein als ein Wolllieferant, der im besten Fall nebenher Gras niedrig hält und Deiche platt trampelt. Aber meine Kapazitäten bei Begreifen sind, ähnlich dem Schaf, eher endlich. Und in dieser Endlichkeit trifft mich Jesu Zusage: Ich kenne dich und du kannst mir nicht entrissen werden.
Wie viel Ruhe und Gelassenheit kann aus dieser Zusage erwachsen? Eine Zusage, die ich wieder nicht begreife – aber auf die ich vertrauen darf.
Ihnen wünsche ich einen Sonntag voller Vertrauen. So viel Vertrauen, dass es auch für die Woche reicht.
Tim Wollenhaupt