8. Sonntag im Jahreskreis, 03.03.2019
Zum Evangelium nach Lukas 6, 39 – 45
Wenn ich ein Bild für das heutige Evangelium suchen müsste, dann wäre es wohl ein Rückspiegel. Und zwar unabhängig vom Fahrzeug und so eingestellt, dass der Mensch am Steuer etwas von sich im Rückspiegel sieht.
Nehmen wir einmal an, wir sitzen auf einem Fahrrad. Dann geht unser unbeeinträchtigter Blick geradeaus in die Richtung, in die wir fahren möchten. Von dem, was wir gerade erst hinter uns gelassen haben, bekommen wir kaum noch etwas mit, denn der Blick in den Rückspiegel zeigt uns nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was hinter uns liegt.
Der Begriff eines Gesellen und eines Meisters ist mir von Kindheit an vertraut. Das Haus, in dem ich lebe, liegt zwischen zwei Handwerksbetrieben, die von Meistern geführt werden und in der eigenen Familie sind Handwerker aller Art in der absoluten Mehrheit. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ wurde mir ab der Wiege gesungen und kaum war ich im Deutschkurs am Gymnasium, las ich „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Lernen und der Erwerb von Fähigkeiten ist ein Lebensthema und wir sehen am heutigen Evangelium, dass das in vorigen Jahrtausenden nicht anders war. Kein Wunder: Jesus wächst als Sohn eines Zimmermanns heran und umgibt sich mit Fischern, nicht mit Pharisäern. Es dauert, bis man Geselle wird. Und selbst dann ist das nur ein Zwischenschritt. Auch als Meister gibt es durchaus noch höhere Weihen: Obermeister, Innungsmeister, Kreismeister. Auch der Begriff des Europa- und Weltmeisters trägt die handwerkliche Prägung. Sieht ein Geselle noch auf seine eigene Lehrzeit zurück? Oder wähnt er sich nach manchen Jahren schon längst fähiger als den Meister? Es kann verführerisch sein, denn meist beherrscht man den Ausschnitt der täglichen Arbeit tatsächlich perfekt. Wohl deshalb ist eine gute Krankenschwester bei mancher Diagnose sicherer als ein Arzt und manch eine Verkäuferin auf dem örtlichen Wochenmarkt kann das Ergebnis sicherer vorhersagen als ein ganzes Institut von Wahlforschern.
Doch hier geht es kaum um den täglichen Ausschnitt unseres scheinbar perfekten Wirkens. Jesus hält uns den Spiegel vor. Auch, damit wir den „Balken im eigenen Auge“ erkennen, aber auch, damit wir uns darüber klar werden, dass wir eben nicht unfehlbar, allmächtig und immer im Sinne Gottes unterwegs sind. Die Menschen des Weges zu Gott suchen nach der liebenden Meisterschaft, werden aber stets Gesellen bleiben müssen. Auf dem Weg zur Meisterschaft aber kommen wir an den „guten Bäumen“ vorbei und dürfen von den „guten Früchten“ probieren.
Wann wurden Sie zum letzten Mal angelächelt? Umarmt? Gelobt? Wann hat man auf Ihren Rat vertraut und deshalb das prognostizierte gute Ergebnis geerntet? Noch nicht lange her? Glückwunsch, das war eine gute Frucht. Wann haben Sie zum letzten Mal gelächelt? Umarmt? Gelobt? Einen weisen Rat gegeben? Glückwunsch, vom guten Baum sind Sie mindestens ein Zweig, vielleicht sogar ein solider Ast. Sie können sich mit beidem nicht so richtig anfreunden? Glückwunsch, Sie stehen auf fruchtbarem Boden und können immerhin zur guten Frucht werden. Und wenn Sie gerade auf dem Weg nach oben sind: Sehen Sie ab und zu nach ihren Wurzeln. Ohne die kommt oben kein Wasser an. Und auch, wenn wir alle zwar in Richtung Himmel wachsen können, wir werden ihn allein nicht erreichen können. Aber wachsen können und sollen wir. Fast schon hätte ich Ihnen einen regenreichen Sonntag gewünscht.
So wünsche ich Ihnen einen segensreichen Sonntag und den Geschmack einer guten Frucht auf der Zunge.
Tim Wollenhaupt