- Sonntag der Osterzeit, 07.05.2017 – Zum Evangelium nach Johannes 10, 1 – 10
Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.
Es gibt Priester, die so von dem Schluss des heutigen Evangeliums begeistert sind, dass sie sich den letzten Vers als Wahlspruch für ihr Wirken aussuchen. Grund genug, um sich dem Evangelium etwas intensiver zu widmen.
Was ist für Sie als Leserin und Leser unserer Impulse ein „Leben in Fülle“? Die wenigsten werden darauf antworten: „So zu leben wie ein Schaf“. Streng genommen müsste man das antworten, wenn man die Bildsprache des heutigen Evangeliums aufgreifen wollte. Gottes Volk wird dort mit Schafen in einem Stall verglichen, gehütet und bewacht von einem guten Hirten, dessen Stimme den Schafen vertraut ist. Und Jesus ist die Tür zwischen dem außen rufenden guten Hirten, Gott also, und dem Volk im Stall.
Was mir zunächst auffällt, ist eine kleine Randbemerkung. Als Angehöriger des Volkes Gottes (aus dem Griechischen also Laie) ist man ebenso in einem Stall wie Jesus nach seiner Geburt. Das Bild der Überlieferung wird ausgedehnt von Jesus auf alle Gläubigen. Sieht man auf die Stallgeburt Christi, von dort auf das wunderreiche Wirken, den Kreuzestod und die Auferstehung, ist die Gleichheit des Geburtsortes in diesem biblischen Bild eine Basis, die nicht niederschmettert, sondern einen steten Aufstieg zur Folge hat.
Zurück aber zur Bildsprache des Evangeliums, zu den Schafen, die der vertrauten Stimme folgen. Das kenne ich sehr gut. Freund, Ratgeber, Vertrauensperson, Mentor, Begleiter – die Bezeichnungen sind vielfältig, doch es sind in wohl jedem Leben nur ganz wenige Menschen, die einen solchen Titel ernsthaft führen dürfen. Menschen, bei denen wir nicht nur eine vertraute Stimme hören, sondern in dieser Stimme auch selbst lesen. Schon bevor ein Freund mich mit expliziten Worten warnt, höre ich am Klang des gedehnten „hmmmm“ vorweg, wohin die Antwort tendieren wird. Diejenigen, die mir und meinem Leben unfreundlich gegenüberstehen, als Diebe und Räuber zu titulieren, ist drastisch und doch einleuchtend. Dem im guten Stall behüteten Schaf wird von den Dieben nicht das Futter genommen, sondern das Leben selbst.
Jesus sagt: „Ich bin die Tür zu den Schafen.“ Ich freue mich darüber, dass das nur die Hälfte des Bildes ist. Die ungesagte Hälfte ist die Krönung am Schluss. Denn die Tür ist nicht nur die Verbindung zu den Schafen, sondern auf der anderen Seite die Verbindung zu Gott. Durch Jesus also wird eine Verbindung zu Gott eröffnet. Und das göttliche Selbstverständnis, das Geschenk, zu dem sich die Tür öffnet, ist das Leben in Fülle. Ein Leben, welches ungefährdet bleibt. Nun, die meisten Türen, die ich kenne, haben ein Schloss. Wer sich als Priester dafür einsetzt, der Gemeinde den Sinn des Gotteswortes zu erschließen, hat sich eine große Aufgabe vorgenommen. Ich bin sehr dankbar dafür, mindestens einen Priester zu kennen, der den Schlüssel mit sicherer Hand zu führen weiß.
Ihnen wünsche ich, dass Sie eine freundlich geöffnete Tür vorfinden, hinter der Sie jemand ohne Hintergedanken und herzlich willkommen heißt. Es könnte ein winziger Teil dieser Lebensfülle erlebbar werden.
Tim Wollenhaupt