6. Sonntag der Osterzeit, 05.05.2024
Zum Evangelium nach Johannes 15, 9 – 17
9 Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. 11 Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. 13 Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. 15 Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, was ihr in meinem Namen erbittet. 17 Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt.
Der Gründonnerstag ist schon eine ganze Weile her. Und doch denke ich an diesen Tag zurück, denn während der Nachtwache von Gründonnerstag auf Karfreitag wird dieser Text gelesen. Ich kenne keinen Zeitpunkt, an dem dieser Text besser zur Geltung kommen kann als in dieser Nacht. Eingerahmt vom letzten Abendmahl und der Aussicht auf den Kreuzestod machen sich Christen ihren Auftrag bewusst. Es kommt dabei nicht allein auf die Feier der Eucharistie an. Das ist sicherlich ein Höhepunkt und es ist gut und wichtig, ihn in besonders feierlicher Weise zu begehen. Man mag darüber streiten, ob dazu ein langes priesterliches Gewand gehört oder ob die Einsetzungsworte nicht auch durchaus in gleich beeindruckender Weise aus einem weiblichen Mund erklingen könnten. Aber das ist nur ein kurzer Moment, nur eine Stunde innerhalb der einhundertachtundsechzig Stunden einer Woche. Allein mengenmäßig sind die einhundertsiebensechzig Stunden außerhalb einer Messfeier schon beeindruckend viel. Auch, wenn man noch eine beeindruckende Zahl an Stunden für Schlaf, Nahrungsaufnahme und Hygiene abzieht, bleibt viel mehr als nur eine Stunde übrig. Und für diese Zeit gilt der Auftrag des Evangeliums: Liebt einander und bleibt in meiner Liebe.
Was ist eigentlich wichtiger dabei? Der Verbleib in der Liebe zu Gott oder die gelebte Liebe unter den Menschen? Gegenfrage: Wenn ich den Mitmenschen meine Liebe entziehe – kann ich dann überhaupt noch Gott lieben? „Gott ist die Liebe“ heißt eine päpstliche Enzyklika und man kann diesen Titel wohl auf alles übertragen. Ich soll meinen Nächsten lieben. Nicht irgendwie, sondern ebenso, wie mich selbst. Ein rücksichtsvoller, ja liebevoller Umgang mit sich selbst ist von Gott erwünscht. Denn nur, wenn ich selbst im besten Sinne „heil“ bin, kann ich auch genügend Kraft für die Liebe am Nächsten aufbringen. Und nur, wenn das ganz und gar gelingt, ist es überhaupt denkbar, über einen Gottesdienst nachzudenken.
Wenn ich mir nun alle diejenigen ins Gedächtnis rufe, die ich nach göttlichem Auftrag lieben soll und lediglich der Zufall darüber entscheidet, wer mir als Nächster begegnet, dann kann der Auftrag schon schockieren. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie kämen als zufälliger Passant zu einem schweren Verkehrsunfall. Aus einem Auto ist auch in einladender Weise der Verbandkasten vor Ihre Füße gekullert. Und nachdem Sie vorschriftsmäßig das Warndreieck aufgestellt haben, um eine Verschlimmerung des bereits entstandenen Unfalls zu verhindern, gehen sie beherzt mit dem Verbandkasten zum verunfallten Fahrzeug. Am Steuer sitzt nur ein Unfallopfer und Sie könnten ihm helfen. Aber beim näheren Hinsehen erkennen Sie in dem Opfer einen der weltweit gefürchteten Diktatoren, der sich inkognito übers Wochenende selbst mal ans Steuer gesetzt hat.
Das ist der Moment, in dem der Liebesauftrag Gottes zu einer echten Herausforderung wird. In dem Sie die Wahl haben, den Auftrag zu erfüllen oder nicht. Ich finde es ganz hilfreich, dass ich dann an diese Nacht der ungestörten Überlegungen denken kann. Ich kann nur in der Liebe zu Gott bleiben, wenn ich helfe. Denn es ist mein Auftrag. Und eigentlich keine Frage, denn ich kann mir nicht vorstellen, einen Gott des Lebens zu lieben, wenn ich das Leben nicht unterstütze.
Ihnen und mir wünsche ich solche Situationen nicht. Aber wenn es denn mal so kommen sollte, erinnert das heutige Evangelium ziemlich eindeutig an Gottes Auftrag.
Tim Wollenhaupt