8. Sonntag im Jahreskreis, 27.2.2022 – Zum Evangelium nach Lukas 6, 39 – 45
39 Er sprach aber auch in Gleichnissen zu ihnen: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen? 40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein. 41 Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? 42 Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. 43 Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte bringt, noch einen schlechten Baum, der gute Früchte bringt. 44 Denn jeden Baum erkennt man an seinen Früchten: Von den Disteln pflückt man keine Feigen und vom Dornstrauch erntet man keine Trauben. 45 Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund.
In der Kellerbar meiner Eltern hing einst ein Stück Holz. Darauf stand, auch mit eingeschränkten Kräften noch gut lesbar, „Brett, vor jeden Kopf passend“.
Es hing dort gefühlt schon Ewigkeiten. Und es gab auch reichlich Gelegenheiten, in denen das Brett auch zum Einsatz gebracht wurde, wenn Gäste es nach ausgetauschten Anekdoten von der Wand nahmen und es dem jeweiligen Erzähler vor die Augen hielten. Als Kind verstand ich derartiges Gebaren nicht. Ich verstand auch spontan falsch, wie mit dem Brett im Keller zu verfahren sei, als ich erstmals asiatische Kampfkünstler sah, die mit ihrer Stirn ein Holzbrett zu zertrümmern vermochten.
Das heißt, war es so falsch? Ist es nicht ebenso anstrengend, schmerzhaft und gefährlich, sich den Balken aus dem biblischen Auge zu ziehen? Kostet es nicht enorme Überwindung, sich vorzustellen, die eigene Sichtweise könnte falsch sein? Grundfalsch? Und ist es nicht manchmal wie ein Gesichtsverlust, wenn wir zugeben müssen, dass das Beharren auf dem eigenen Standpunkt einem logischen Gedankengang gerade nicht gefolgt ist? Dass ein leichter gedanklicher Schritt zur Seite einen viel vollständigeren Blick auf die Situation und ein zutreffenderes Urteil ermöglicht hätte?
Nach diesem Akt der temporären Erkenntnis allerdings folgt mit Wucht die Sahne auf dem biblischen Kuchen. Jesus erklärt mit dem Bild von den Früchten des Baumes, woraus wir Orientierung ziehen sollten und im Regelfall sogar können. Wenn wir den Gedanken von Liebe als das Innerste des Baumes definieren, an dem wir Äste oder Blätter sind, dann kann man prinzipiell schnell erkennen, was an unserem Handeln mit Nährstoffen versorgt wird und was nicht. „Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund“, heißt es im Evangelium. Wenn Ihr Bauch beim nächsten merkwürdigen Redeschwall ein Bollwerk gegen die Worte aufbaut: Ihr Bauch ist das leibeigene Zentrum der Nährstoffversorgung. Wenn der fremde Gedanke in ihrem Ohr von Ihrem Bauch nicht genährt wird, lassen sie den Gedanken doch einmal am anderen Ohr wieder heraustreten. Die Konzentration auf das, was nicht nur einem fremden Herzen entspringt, sondern von allein fruchtbar und schmackhaft ist, könnte das Richtigere sein.
Wann immer ich im Supermarkt Menschen an der Obst- und Gemüsetheke sehe, stelle ich mir vor, dass auch Gedanken und Argumente auf ihren Frischegehalt und ihren inhaltlichen Vitamingehalt geprüft werden können.
Ihnen und mir wünsche ich einen gesunden Sonntag und eine nahrhafte Woche.
Tim Wollenhaupt