10. Sonntag im Jahreskreis, 06.06.2021
Zum Evangelium nach Markus 3, 20 – 35
20 Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass sie nicht einmal mehr essen konnten. 21 Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen. 22 Die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er ist von Beelzebul besessen; mit Hilfe des Herrschers der Dämonen treibt er die Dämonen aus. 23 Da rief er sie zu sich und belehrte sie in Gleichnissen: Wie kann der Satan den Satan austreiben? 24 Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. 25 Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. 26 Und wenn sich der Satan gegen sich selbst erhebt und gespalten ist, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen. 27 Es kann aber auch keiner in das Haus des Starken eindringen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt; erst dann kann er sein Haus plündern. 28 Amen, ich sage euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; 29 wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften. 30 Sie hatten nämlich gesagt: Er hat einen unreinen Geist. 31 Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben draußen stehen und ließen ihn herausrufen. 32 Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. 33 Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? 34 Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. 35 Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
Als ich ganz klein war, lernte ich das Wort „Stammbaum“ kennen. Mit einer Zeichnung, die einem hübsch belaubtem Baum ähnelte, wurde mir erklärt, was Familie ist, wie groß sie ist und wer mit wem verwandt und wer mit wem verschwägert ist. Die Familie meiner Mutter ist etwas übersichtlicher als die meines Vaters, aber für mich als Kind war das eine riesige Anzahl von Personen, die sich merkwürdigerweise nie an einem Ort traf. Selbst bei den schönsten Festen meiner Eltern war nie die komplette Verwandtschaft anwesend. Und selbst die, die gekommen waren, sorgten für volle Häuser.
Die Frage, wo denn in diesem Stammbaum die Freunde stehen, die doch viel häufiger bei uns zu Gast waren und die zum Teil erheblich herzlicher willkommen geheißen wurden als weit entfernte Verwandte, führte zu einem eher unbefriedigenden Ergebnis. „Verwandtschaft hat man, Freunde findet man“, hieß es. Für mich als kleinen Jungen ein unauflösliches Rätsel.
Es dauerte seine Zeit, bis ich selbst Freunde hatte – also Menschen, die nicht mehr nur Spielkameraden oder Schulfreunde waren, sondern tatsächliche Lebensbegleiter. Menschen, mit denen man stets reden konnte. Menschen, die einem tatsächliche Stützen waren und bis heute sind. Menschen, über deren Verlust man mehr trauert als um den Verlust eines Menschen aus der eigenen Verwandtschaft. Menschen kennen für diese engen Freunde auch den Begriff der „Wahlverwandtschaft“. Und so verstehe ich Jesu Schlusswort im heutigen Evangelium nicht unbedingt als Ausgrenzung seiner Verwandtschaft, sondern als Aufwertung derer, die Gottes Wort folgen.
Nun bin ich Einzelkind. Und im Evangelium sagt mir der irdische Vertreter von übermenschlicher Liebe zu, dass er mich wie einen Bruder empfindet, wenn ich Gottes Wort folge. Das empfinde ich als ein großes Wort der Freundschaftszusage. Und sofort denke ich wieder an früher, als ich immer ein ganz klein wenig neidisch war auf diejenigen, die sich bei Auseinandersetzungen von dem Konflikt schon dadurch befreien konnten, dass sie nur sagen mussten: „Vorsicht, sonst sag ich das meinem großen Bruder!“
Wenn nun Jesus mein „großer Bruder“ ist – was soll mich noch schocken? Vor allem, wenn ich es ihm nicht erst sagen muss, was mich ängstigt, sondern er es schon längst weiß? Und wenn ganz unabhängig davon, in welcher Masse von Menschen ich mich befinde, mein Bruder immer an meiner Seite ist?
Ihnen wünsche ich einen beruhigten Sonntag in der Begleitung des Bruders, den Sie nicht im Stammbaum finden, sondern dort, wo Ihre Seele wurzelt.
Tim Wollenhaupt