6. Sonntag der Osterzeit, 09.05.2021
Zum Evangelium nach Johannes 15, 9 – 17
9 Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. 11 Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. 13 Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. 15 Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet. 17 Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt.
Es ist schon ein merkwürdiger Satz. „Bleibt in meiner Liebe!“ ist grammatikalisch ein Befehl. Er endet mit einem Rufzeichen. Stellen Sie sich eine angetretene Soldatenformation vor. Stramm steht sie vor dem Befehlshaber. Und dieser Befehlshaber erhebt seine auf vielen Exerzierplätzen trainierte Stimme und brüllt nun seine Untergebenen an: „Bleibt in meiner Liebe!“ – Damit habe ich so meine Probleme.
Nun hat Jesus keine Uniform getragen. Seine Jüngerinnen und Jünger standen nicht stramm. Und es ist auch kein militärischer Drill Jesu überliefert. Das Rufzeichen muss also eine andere Bedeutung haben. Es ist nicht der Befehl, sondern ein einprägsamer Auftrag gemeint. Eher als Überschrift für alles Tun gedacht. Egal, was ihr auf Erden macht, lasst euch stets von dem Gedanken meiner Liebe leiten. Das wäre die diplomatische Version gewesen. Und sie hätte dem Auftrag sprachlich die Kraft genommen. So, wie ein diplomatisches Schreiben auch stets sehr vorsichtig und höflich formuliert ist, selbst, wenn der absendende Staat eigentlich seinen tiefen Unmut äußern möchte. Diplomatie ist in gewisser Weise wie ein Arbeitszeugnis. Die Wahrheit findet man nicht in den Worten, sondern zwischen den Zeilen. Und diese Quelle für Missverständnisse will Jesus wohl vermeiden. Daher eine klare und verständliche Ausdrucksweise.
Wenn ich so auf mein Leben blicke, dann merke ich zweierlei. Einerseits: ich verstehe den Auftrag ohne jeden Zweifel. Andererseits: Die Umsetzung stößt allenthalben an Grenzen. Warum eigentlich? Warum ist es so schwer, dem liebenden Vorbild nachzufolgen? Weil Gott mir neben der Kraft zum Lieben eben auch diese anderen Gaben geschenkt hat? Ärger, Eifersucht, Gier, Geiz als die direkten Konkurrenten zu den Gaben des Heiligen Geistes? Weil in diesen Konkurrenten die Verlockungen des Versuchers in der Wüste zum Vorschein kommen? Vielleicht ist es viel simpler. Weil ich ein Mensch bin. Weil Probieren zum Wesen gehört. Weil ich mich entscheiden kann und soll. Derjenige, der mir aufträgt, wie Jesus zu lieben, muss auch wissen, dass die Beauftragten die Fähigkeit mitbringen, das Gegenteil zu tun.
Der Auftrag Jesu ist als Leitlinie gedacht. Und als eine Leitlinie kommt sie selbst dann immer wieder zum Vorschein, wenn man vorher oder zwischendurch Umwege gewählt hat. Die persönliche Slalomfahrt ist nicht unmöglich, wenn man das Ziel nicht aus den Augen verliert. Und die herzliche Bitte unter Freunden ist allemal verbindlicher als der Befehl gegenüber einem Knecht. Liebe lässt sich nicht als Befehl ausführen. Aber als Freunde erleben.
Für manches braucht man Distanz. Und aus der Distanz heraus betrachtet, muss ich feststellen, dass das Handeln aus Liebe in aller Regel die weitaus besseren Phasen in meinem Leben beschreibt. Ein guter Lohn dafür, dem Gotteswort zu folgen. Immerhin bleibt Gottes Liebe über allem und über alles hinweg bestehen. Was für eine Motivation.
Ihnen wünsche ich einen liebevollen Sonntag als Start in eine gleichermaßen liebevolle Woche.
Tim Wollenhaupt