Ostermorgen, Sonntag, 04.04.2021 – Zum Evangelium nach Johannes 20, 1 – 18
Weg.
Einfach weg.
Nicht nur der Stein vor dem Grab, auch der Leichnam.
Es gibt Gräber, die über viele Jahrzehnte, lange auch nach dem Ablauf der üblichen Liegezeit, mit Hingabe gepflegt werden. Die Lettern auf den Grabsteinen werden mit frischer Farbe belegt, über Generationen hinweg gehen die Menschen zu den Gräbern und gedenken derer, die sie selbst vielleicht nur noch aus Erzählungen Älterer kennen. Ein Grab und die Gewissheit, dass der verstorbene Mensch in diesem Grab liegt, gehören für viele Menschen zur Trauerarbeit zwingend dazu. Der verstorbene Mensch wurde aus der Gemeinschaft gerissen, aber wenigstens das Grab ist noch da, die letzte verbliebene Sicherheit.
Jesu Grab ist leer. Diejenigen, die zum Grab kommen, haben nicht nur den Menschen Jesus verloren, sie müssen erkennen, dass es keinen Ort mehr gibt, an dem sie an ihrer Trauer arbeiten können.
Beim Blick in das leere Grab kommen Maria Magdalena die Tränen. Und sie kommen ausgiebig. Mehr als verständlich. Sie ist über das gewohnte Maß tod-traurig. Ein doppelter Verlust lastet auf ihr. Wohin mit dieser Hilflosigkeit und dieser Ohnmacht? Kein Wunder, dass sie Engel sieht und Jesus nicht erkennt. Mit verquollenen Augen ist schlecht Klarheit zu erblicken.
So geht es uns in gewisser Weise schon seit mehr als einem Jahr. Wir stehen an Gräbern und werden blind für das, was unfassbar ist. Als dieser Text entstand, waren in Deutschland allein an Covid-19 rund 75.000 Menschen verstorben, weltweit rund 2,7 Millionen. Die Schutzmaßnahmen gegen die todbringende Erkrankung sorgen für Vereinsamung, für das Gefühl von Ohnmacht und Angst, wirken für viele wie ein Tod auf Raten.
Mitten hinein stellt das Evangelium eine provokante Frage, gleich zwei Mal: „Warum weinst Du?“
Wie kann man solch eine Frage stellen, angesichts des unübersehbaren Elends? Angesichts des unzähligen Leides in so vielen Herzen? Erst, als Jesus Maria persönlich anspricht, vermag sie Jesus zu erkennen. Aus der Trauer über den Tod wird Gewissheit um das Leben. Aus dem isolierten persönlichen Leid wird eine direkte Ansprache, die ins Herz trifft.
Maria Magdalena geht mit der Erkenntnis, dass Jesus lebt. Und sie geht mit seinem Auftrag, diese Gewissheit zu verkünden. Mehr noch: Mit den Worten „ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ nimmt er vorweg, was allen bevorsteht: Nach dem Tod geht das Leben bei Gott weiter. Nicht allein das Leben Jesu, sondern das Leben aller.
Was für eine Zusage. Jesus erkennt das unfassbare Leid der Menschen und macht ihnen Hoffnung auf das, was unbegreiflich ist, aber stärker ist als alles Leid. Du bist geliebt und Du wirst leben. Eine Zusage, die in gleicher Form auch für Sie und für mich gilt.
Wir dürfen heute vielleicht zu Gräbern gehen, nicht aber zu Gottesdiensten in Kirchen. Es mag traurig sein, das zweite Osterfest in Folge nicht feiern zu dürfen. Aber das ist irdische Trauer. Sie sollte nicht größer sein als die Hoffnung. Das Leben geht weiter. Anders. Aber es geht.
Vielleicht ist diese Textstelle auch für eine ganz andere Sicht auf das Leben gut. Denn das Evangelium nimmt klar in den Blick, wem Jesus begegnet und wem der Auftrag gegeben wird, das Leben zu verkünden. Vielleicht tut es vorwiegend älteren Herren im scharlachroten Gewand bei aller Profession für wortreiche Dogmatik gut, einen Blick auf diesen Text zu legen. Dann erkennt man im Blick auf die scheinbare Sicherheit als einzig berufener Mann zum Priesteramt wohl: Diese Sicherheit ist weg.
Einfach weg.
Egal, was für ein Mensch Sie sind: Sie sind über den Tod hinaus geliebt und berufen, diese Gewissheit zu verkünden. Mit diesem Bewusstsein wünsche ich Ihnen ein anderes, aber dennoch gesegnetes Osterfest.
Tim Wollenhaupt