14. Sonntag im Jahreskreis, 04.07.2021
Zum Evangelium nach Markus 6, 1 – 6
1 Von dort brach Jesus auf und kam in seine Heimatstadt; seine Jünger folgten ihm nach. 2 Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen! 3 Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. 4 Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen außer in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie. 5 Und er konnte dort keine Machttat tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. 6 Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Jesus zog durch die benachbarten Dörfer und lehrte.
Kinder spielen. Das ist normal, manchmal süß und nett anzusehen, bisweilen wird aus dem Spiel Forscherdrang, und plötzlich widmen sich die lieben Kleinen mit Akribie einem Objekt, welches für die betrachtende Erwachsenenwelt eher unspektakulär ist. Doch die kleinen Forscher lassen sich davon nicht beirren und versinken in ihrer eigenen Welt der Wahrnehmung.
Ein paar Jahre später: Aus den lieben Kleinen, die zuvor mit Stupsnase und lernender Motorik die Faszination eines Kieselsteins im Garten im wahrsten Sinne des Wortes erfasst haben, sind denkende Menschen geworden. Solche, die zuhören, das Gehörte analysieren und mit anderen Informationen zusammenbringen. Und wie aus dem Nichts erklären sie die Welt. Nicht immer ganz treffsicher, aber mit dem tiefsten Selbstbewusstsein und dem größten Vertrauen in das selbst Erdachte.
Neben das Staunen der umgebenden Menschen kommt dann, je nach dem Grad der geäußerten juvenilen Expertise, der staunende Ausruf: „Woher hat er das nur?!“ Meist gefolgt von einem eher übersichtlich anerkennenden: „Von Dir jedenfalls nicht!“
Aus Kindern werden Leute und sie reflektieren die Vielzahl der Einflüsse, die sie in jüngeren Jahren in einer Menge aufnehmen, die das reifere, selektierende Gehirn mitunter gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn die Äußerung des jungen Menschen dann auch noch richtig ist, staunt man nach allen Regeln der Kunst. Der Ursprung des Wissens oder der Grund der Analyse bleibt im Kern verborgen, da wir als Erwachsene nicht überblicken können, aus welchem Repertoire der junge Mensch alles schöpft. Doch wir erkennen, dass aus dem verspielten Kind ein immer wertvollerer Teil der Gesellschaft erwächst.
Diesen Zustand hat die biblische Gesellschaft im heutigen Evangelium längst hinter sich gelassen. Jesus ist bereits erwachsen, er ist schon von Anhängern umgeben und wirkt bereits. Der Zwölfjährige, der im Tempel die Schriftgelehrten belehrt, ist schon Geschichte. Und doch bleibt Jesus wie jedes andere Kind in einer Gesellschaft immer auf seine sichtbare oder bekannte Herkunft beschränkt. Wir erkennen das auch bei der gerade laufenden Fußball-Europameisterschaft. „Wie kann der denn für die Mannschaft aus (setzen Sie hier eine beliebige Mannschaft aus Kerneuropa ein) auflaufen – der kommt doch aus Afrika!“ Nun könnte man erwidern, dass alle kerneuropäischen Länder vor gar nicht langer Zeit nach Kräften dafür gesorgt haben, dass Afrika durch Kolonialisierung beherrscht wurde, was auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben konnte. Man könnte auch auf Eliten verweisen, die auch keine gebürtigen Schweizer sind, aber nach einer hinreichend namhaften Investition zur Übertragung der eidgenössischen Bürgerschaft eingeladen werden. Und spätestens dann, wenn etwa ein zu beträchtlichem Vermögen und zur schweizerischen Staatsbürgerschaft gelangter Mensch aus hiesigen Gefilden den Mund öffnet, erkennen Urschweizer rasch, dass da jemand ganz gewiss kein gebürtiger Staatsangehöriger ist.
Herumgekommen ist Jesus auch. Doch keine dieser natürlichen Erfahrungsquellen kann seine Macht, seine Wirkungsbreite und seine Anhängerschaft erklären. Dann kommt ein typisches Gesellschaftsphänomen zum Ausdruck: Was wir uns nicht erklären können, kann auch nicht existieren. Bei Jesus heißt das: Da er über die zu erkennenden Fähigkeiten als Abkömmling eines Zimmermannes nicht verfügen kann, kann er sie auch nicht haben. Wir sehen das Gegenteil, erkennen aber doch nur unsere Wahrheit. Anstatt wir uns am brillanten Spiel des Spielers mit möglicherweise einer etwas anderen Physiognomie erfreuen oder daran, dass jemand sich gerade für eine erwählte statt für die gegebene Umgebung engagieren will, lehnen wir es ab.
Für mich wirft diese Erzählung die Frage auf, ob ich selbst eigentlich bereit bin, Jesu Wirken zuzulassen. Bin ich ein unvoreingenommener Mensch in einem Dorf, das von Jesus besucht wird? Oder bin ich in den biblischen Erzählungen so gefangen, dass ich mich zur Familie Jesu zähle und dann nur noch eingeschränkt wahrzunehmen bereit bin? Das, was in der Bibel steht, ist für mich Jesu Herkunft, was dort nicht steht, kann nicht sein? Das damalige Wirken ist die Wahrheit, aber eben Vergangenheit?
Oder lasse ich zu, dass das, was ich in dem viele Jahrhunderte alten Text lese, meinem heutigen Denken auf die Sprünge hilft, eine ganz entscheidende Quelle für mein Denken und Wirken wird? Was, wenn dadurch ein göttlicher Auftrag nicht nur im alten Text steht, sondern auch zur Maxime meines aktuellen Handelns wird?
Dann könnte man auch heute fragen, woher ich das denn habe.
Und meine Antwort heute wäre dieselbe wie die Antwort Jesu vor zweitausend Jahren. Das Geschenk der Liebe habe ich nicht von dieser Welt. Sondern von Gott.
Ihnen wünsche ich die Freude am Ausprobieren, Analysieren und Staunen. Und am Zulassen des Undenkbaren – wie etwa einer Liebe, die über das hiesige Leben hinausgeht.
Tim Wollenhaupt