4. Sonntag der Bereitungszeit, 22.03.2020
Zum Evangelium nach Johannes 9, 1 – 41
Als Fotograf erinnert man sich gern an einen alten, aber dennoch wahren Werbespruch eines Kameraherstellers: „Wer sehen kann, kann auch fotografieren.“ Bis dahin ist alles einfach und simpel. Aber dann kommt der Hammer mit einem Augenzwinkern: „Sehen lernen kann allerdings dauern.“ Während der ambitionierte Fotofreund seine damalige Erlösung im Katalog einer Wetzlarer Kameraschmiede fand, verhält es sich mit dem Sehen im christlichen Sinne offenbar noch etwas schwieriger.
Wer sich beim heutigen Evangelium auf die Langversion einlässt, trifft viele gedanklichen Bekannten. Von der Gewissheit ist die Rede, von den Regeln, die den scheinbar Eingeweihten nicht bekannt sind. Diese Eingeweihten wissen so viel über die Regeln, dass sie auch zu wissen glauben, dass Hilfe am falschen Tag eine Sünde sein kann. Wahre Hilfe in ihrem Sinne darf nur in regelgerechtem Gewand daherkommen. Je mehr man davon liest, desto verworrener wirkt diese Weltsicht.
Was Jesus tut, ist hingegen ein ganz einfacher, berührender Akt. Er wendet sich einem Blinden zu. Er öffnet ihm die Augen nicht sofort, sondern bereitet den Blinden durch seine Berührung auf die sehende Zukunft vor. Vor dem Sehen steht das Waschen. Das bedeutet für mich: Der Blinde hat sich auf das Wagnis Jesus offen eingelassen – tatsächlich gesehen hat er Jesus hingegen nicht.
Schon hier finde ich mich im Blinden wieder. Gesehen habe ich Jesus nie. Aber auf das Wagnis der Nachfolge versuche ich mich immer wieder einzulassen. Doch es klappt nicht immer und auch nicht für die ganze Zeit meines Lebens. In gewisser Weise schickt mich Jesus immer wieder zum Waschen. Die österliche Bereitungszeit in St. Maria Magdalena beginnt derzeit mit der Tauferinnerung. Auch des „Geburtstages“ unserer begehbaren Taufstelle wegen – besonders aber deshalb, weil die Taufe ein Eintauchen, ein Abwaschen und ein Auftauchen beinhaltet. So gesehen kann die Erinnerung an die Taufe im rituellen Moment so etwas sein wie der individuelle Gang jedes Gemeindemitgliedes zum Brunnen der Taufe, um sich dort für das vorzubereiten, was kommt und an das zu erinnern, was Gott an liebender Gemeinschaft schon längst geschenkt hat. Nicht von ungefähr kennen auch andere große monotheistische Religionen das rituelle Bad vor dem eigentlichen Gottesdienst.
Als nun der Blinde sehen kann, steht nicht die Mitfreude im Vordergrund. Merkwürdig. Die, die schon lange sehen können, sehen das Wunder nicht. Wie es im alten Werbespruch heißt: „Sehen lernen kann allerdings dauern.“ Alle bis auf den vormalig Blinden machen aus unterschiedlich schwachen Gründen freiwillig die Augen zu und verschließen ihren Blick vor dem Licht in Gestalt des Jesus. Das ist viel einfacher, viel vertrauter als das Risiko, den eigenen Blickwinkel neu zu justieren. Und als der frühere Blinde von den Sehenden verstoßen wird, wütet Jesus nicht, sondern er offenbart sich dem, den er geheilt hat. Für mich heißt das: Gott erzwingt sich nicht die Anhängerschaft, er verflucht nicht diejenigen, die ihn nicht sehen wollen. Er wendet sich dem zu, der sein Licht erkennt. Die Welt kann mich verstoßen. Gott nicht.
Immer wieder brauche ich Zeit, um mich neu auf Gottes Blickwinkel einzustellen. Immer wieder lasse ich es zu, dass mein Blick abschweift, dass ich mit einem Brett vor den Augen durch die Gegend tappe und mich dennoch im Vollbesitz aller Kenntnisse wähne.
Schön, dass Jesus aus den simpelsten Zutaten ein erhellendes Rezept für die Zukunft anrührt und so dezent darauf verweist, dass irdische Regeln zwar ganz praktisch sein können, aber nie an Gott heranreichen. „Ich bin das Licht der Welt.“ Eine Feststellung, die über jeder Regel steht.
Ihnen und mir wünsche ich viel Freude beim Lernen des Sehens. Und dann einen strahlenden Sonntag.
Tim Wollenhaupt