Zum Evangelium Markus 12,38-44 am 32. Sonntag im Jahreskreis – 11.11.2018
38 Er lehrte sie und sagte: Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Marktplätzen grüßt,
39 und sie wollen in der Synagoge die Ehrensitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben.
40 Sie fressen die Häuser der Witwen auf und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Umso härter wird das Urteil sein, das sie erwartet.
Die vorbildliche Witwe
41 Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel.
42 Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein.
43 Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern.
44 Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.
Alles ist relativ!
Es gibt Perikopen, die ich besonders spannend finde.
Diese zum Beispiel, denn die Sätze scheinen nicht ganz zusammen zu passen
und doch erzeugen sie (An-)Spannung!
Die Gewänder der Schriftgelehrten erinnern an den Karnevalsauftakt
und an Kleriker in ihren Gewändern.
Nehmt euch in Acht vor ihnen!
Der Missbrauchsskandal!
Die Ergebnisse der Studie sind erschreckend und beweisen einmal mehr,
dass einige derjenigen in ihren Gewändern
in der jüngeren und ferneren Vergangenheit falsche Prioritäten
bei der Verhinderung und auch bei der Aufklärung und Aufarbeitung
von sexuellem Missbrauch in der Kirche gesetzt haben
und insofern schwer gefehlt haben!
Sie haben Ihre Rolle verspielt!
Nehmt euch in Acht vor ihnen!
Die Vergehen an sich, die Opfer selbst sind an dieser Stelle noch gar nicht erwähnt!
Das ging mir zunächst durch den Kopf als ich den Anfang des Evangeliums las, um einen Impuls zu schreiben.
Ich möchte diese Rolle der Kirche nicht verschweigen, nicht relativieren
aber ich möchte diese Rolle an dieser Stelle nicht vertiefen,
sondern einen anderen Ansatz wagen und akzentuieren:
Worum geht es eigentlich?!
Die Rolle der Kirche in der Gesellschaft
und um Gedanken,
die mir durch den Kopf gingen,
nachdem ich geerdet worden bin!
Vor wenigen Wochen war ich mit 7 anderen Teilnehmer*innen in Brasilien.
Wir haben Heinrich Hegemann aus Wattenscheid besucht
und haben dort wertvolle Erfahrungen zu dieser Frage
nach der Rolle der Kirche in der Gesellschaft gemacht.
Padre Henrique arbeitet seit rund 30 Jahren
mit einigen Unterbrechungen in Piauí im Nordosten Brasiliens.
Der Fluss Parnaíba und sein riesiges Delta mit 70 größeren und kleineren Inseln
bestimmen Flora und Fauna der Region und die Landwirtschaft.
Es handelt sich um die ärmste Region und den ärmsten Bundesstaat Brasiliens.
Das Jahresdurchschnittseinkommen der Menschen liegt dort
zwischen 900 Real (etwa 200 €) und 900€!
Beides ist nicht viel und trotzdem geht es den Menschen mittlerweile relativ gut.
Viele haben ein kleines Stückchen Land,
oder teilen sich etwas Land,
auf dem sie Nahrung anbauen können.
Der Parnaíba unterstützt sie dabei,
das Grundwasser bleibt erreichbar.
Die Menschen arrangieren sich mit dem, was sie haben.
Durch Fischfang, den kleinen Garten mit Gemüse, Zuckerrohr,
Carnauba- und Kokospalmen,
Hühnern, Schweinen und Jagd versuchen sie,
ein wenig autarker zu bleiben.
Die Menschen,
indigener, afrikanischer und europäischer Abstammung,
sind freundlich, offen und arm!
Trotz aller Armut sind sie reich.
Sie teilen diesen Reichtum:
Zuneigung, Freude und Gastfreundschaft.
Im Internet, das hier gefühlt besser funktioniert als in Wattenscheid,
sehen viele Jugendliche, dass man auch anders leben könnte.
Aber leider schaffen weder Politik noch Gesellschaft die Grundlagen dafür.
Nicht nur hier; das sind weltweite Fluchtursachen!
Geld wird investiert, wo es Gewinne für Einzelne gibt,
aber nicht für die Allgemeinheit.
Das ist auch bei uns oft so, hier ärgert es uns!
Dort in Brasilien tut es weh und es geht ums Leben!
Daraus resultiert eine Perspektivlosigkeit für viele Jugendliche in Piauí.
Genau wie in anderen Teilen des riesigen Landes
wird diese Perspektivlosigkeit mit Drogen gedämpft.
1 Abhängiger braucht mindestens 5 weitere Abhängige,
um durch das Dealen seine eigene Sucht finanzieren zu können.
Einige Wenige verdienen damit viel Geld!
Ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss!
Perspektiven schaffen!
Das ist eines der Probleme, mit denen sich Padre Henrique
und seine Gemeinden befassen.
Vor 25 Jahren waren die Menschen noch ärmer
und es gab noch keine Infrastruktur wie Straßen aus Asphalt,
Wasserleitungen oder gar das Internet.
Heinrich begann damals mit anderen Missionaren und den Gemeinden
für die Menschen und mit den Menschen
Zisternen als Wasserspeicher zu bauen.
Diese speichern den Regen der Regenzeit für das restliche Jahr.
Hilfe zur Selbsthilfe, mittlerweile selbständig organisiert!
Wasserknappheit ist auch auf dem Land zur Seltenheit geworden.
Und wenn es doch eng wird, bringt heute das Militär das Wasser zu den Zisternen.
Ein weiteres Problem, mit denen sich Padre Henrique
und seine Gemeinden befasst haben. Eine dienende Rolle der Kirche.
Nach der Imkerei, der Weberei für die Hängemattenproduktion und anderen Ideen,
wird aktuell mit der Aufzucht von Tilapia als Zubrot für die Menschen in den Gemeinden experimentiert.
Es sind unzählige Kirchen entstanden,
die zum jeweiligen religiösen und profanen Dorfzentrum geworden sind.
Inkulturation ist dabei ein hohes Gut!
SEINE Gewänder, sind die der Menschen hier!
ER ist einer von ihnen!
Zwei Dinge sind mir besondere nahe gegangen.
Und hier muss ich an die Witwe in diesem Evangelium und an Armut denken:
Henrique erzählte von einer Frau, die vor vielen Jahren um die Taufe ihres Kindes bat.
Strenge moralische Normen der Kirche
und der nordost-brasilianischen Gesellschaft stellten ihre Probleme dar!
Ein Kind ist das Produkt der Ehe!
So versteht es nicht nur der Katechismus.
Ohne Ehe kein Kind! Ohne Ehe auch keine Taufe!
Sie hatte zu diesem Zeitpunkt schon 6 Kinder.
Sie sei aber nicht verheiratet. Es gäbe keinen Vater des Kindes.
Der sei nicht bei ihr.
Ein Taufhindernis in der brasilianischen Kirche!
Bei uns in Deutschland war dies noch vor 30 Jahren ein Grund
gesellschaftlicher Ächtung und auch in der Kirche mindestens ungern gesehen.
Ja, er ernähre das Kind und kümmere sich, so die Frau auf Nachfrage.
Im Gespräch mit der Frau bemerkte Henrique, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sie solle ehrlich sein.
Er würde das Kind selbstverständlich taufen,
aber sie solle ihn nicht belügen!
Die Zweifel bestätigten sich: Sie gab zu, dass sie mit dem Mann,
dem Vater ihrer Kinder seit Jahren zusammenlebe!
Unverheiratet! Ein Skandal und erst recht ein Taufhindernis
in der sehr strengen brasilianischen Kirche und in der Gesellschaft ein Tabu!
Auch bei uns war das Zusammenleben ohne Trauschein lange ein Problem!
Heute sind wir da selbstverständlich liberaler, oder etwa nicht?!
„Warum habt ihr nie geheiratet? Warum heiratet ihr denn nicht?!
Warum geht ihr der gesellschaftlichen Ächtung nicht aus dem Weg durch die Eheschließung?!“
„Wir haben kein Geld für eine Hochzeit! Wir können es uns nicht leisten zu heiraten!“
Keine Ehe, keine Taufe! Auf Wiedersehen!
„Ich verheirate euch, wenn ihr möchtet. Was könnt ihr dafür geben, wenn ihr kein Geld habt?!“
„Wir haben eine Bananenstaude; wir könnten 5 Bananen geben!“
„Abgemacht, 3 Bananen für mich, 2 für den Bischof (als Kirchensteuer)!“
Die Trauung und Taufe wurden dann kurzfristig brasilianisch als Gemeindefest organisiert,
inklusive Abholung durch den Padre auf seinem Pick-Up!
Hochzeit und Taufe nicht um der moralischen Normen Willen,
sondern im Dienst der Menschen und ihrem Leben!
Rund 15 Jahre später meldet sich ein junger Mann bei Heinrich,
er möchte sein Kind taufen lassen.
Der Padre müsse ihn kennen, meinte der Mann.
Er sei von Padre Henrique selbst getauft worden.
Der Padre habe auch seine Eltern getraut.
Am Tag der Taufe weiß Henrique, wer der Mann ist.
Er ist das Kind, das er damals taufte.
Sein Vater hat mittlerweile mit anderen eine Kirche gebaut
und leitet die entstandene Gemeinde als Laie;
aus Dankbarkeit für die damalige Hilfe des Padres
als seine Frau, die Mutter mit den 6 unehelichen Kindern, um die Taufe bat!
5 Bananen, um diese Form der Armut geht es in dem heutigen Evangelium.
Armut, die von der Gesellschaft und religiöser Teilhabe ausschließt!?
Nach dieser Erzählung Heinrichs möchte ich noch etwas teilen: Das Teilen!
Heinrich verhalf vor Jahren einer jungen Frau einen Traum wahr werden zu lassen:
Die Frau aus Luis Correia wünschte sich zu studieren. Er ermöglicht es ihr.
Heute ist sie Rechtsanwältin. Advogada! Doutora!
Der Wunsch nach einer eigenen Familie ist damit passé.
Zu hohe Bildung schreckt die Männer ab!
Sie arbeitet heute in einer kleinen Kanzlei im Haus von Padre Henrique
und vertritt Pfarreimitglieder. Eine Pfarrei von ca. 10000 km2 (etwas kleiner als der Libanon!)
Eine Familie, etwa 60 km im Landesinneren hat mit ihrer Hilfe einen Prozess gewonnen.
Bezahlung? Nicht genügend Geld!
Ein HUHN!
Okay ein Huhn!
Wir haben diese Familie besucht.
Ein Ehepaar in unserem Alter. Eine 19-jährige Tochter. Eine kleine Familie!
Sie luden uns zum Essen ein, bereiteten das Huhn für uns!
Die Familie hat uns in ihrem Haus, einer kleinen Hütte von 10 m2, und in ihrem Garten Eden aufgenommen,
schamvoll, weil wir doch reich und sie so arm seien!
Die Familie hat uns gezeigt, wie Cashew und Maniok geerntet und verarbeitet werden.
Es wurde ein typisch indianisches Nahrungsmittel hergestellt,
nicht im Thermomix, sondern gestampft mit einem Holzknüppel
in der Kuhle einer Holzbohle.
Wir durften mithelfen und kosten!
Mit süßem Kaffee schmeckt es köstlich.
Wir haben mit dieser Familie zusammen gegessen und getrunken.
Mahl gehalten! Den Tisch geteilt!
Die Familie hat uns noch viel mehr gezeigt!
Sie hat uns Zufriedenheit und Dankbarkeit gelehrt.
Sie hat für uns ein Vermögen investiert:
Das eine Huhn ist für diese Familie ein Vermögen gewesen!
Der Drang Geld dafür zu geben; indiskutabel!
Dafür zu bezahlen wäre unverschämt gewesen.
Gastfreundschaft ist hier heilig!
Liebevoll beschenkt!
„…diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt!“
Ich bin, wir sind dort geerdet worden!
Wir haben erfahren, dass Reichtum relativ ist.
Wäre oder bin ich bereit, ebenso viel zu geben,
wie diese Familie uns gegeben hat?!
HERR, lass mich in meinem Leben nicht vergessen,
wie reich ich beschenkt worden bin,
und lass mich nicht rasten,
in diesen Geschenken einen Auftrag für die Kirche
und für mich selbst erkennen:
Diene und teile!
Thomas Schlott