30. Sonntag im Jahreskreis, 28.10.2018
Zum Evangelium Mk 10, 46-52
Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
Der bekannte norwegische Maler und Graphiker Edvard Munch malte 1893 ein sehr eindrucksvolles Bild mit dem Titel „Der Schrei“. Es stellt eine Landschaft mit einem See dar, in dem sich die Abendsonne spiegelt. Über eine Brücke gehen zwei Männer. Ihnen folgt in einen größeren Abstand eine Frau. Sie hat sich von ihren Begleitern abgewandt. Der Betrachter des Bildes sieht sie von der Vorderseite. Die schmalen, sehr langen Hände sind an das blasse Gesicht gepresst, der Mund weit geöffnet. Offensichtlich schreit die Frau ihre Angst hinaus, doch der Schrei verhallt, ihre Begleiter reagieren nicht. Ein Schrei ins Leere?
Arm, einsam und verlassen ist, wer niemand hat, den er anrufen kann, zu dem er schreien kann in Zeiten von Not, Schmerz und Bedrängnis. Angst, Einsamkeit und Leid gehören zu den Grunderfahrungen der Menschen.
Wer war Bartimäus, warum schrie er? Ging der Schrei ins Leere?
Bartimäus war blind. Blind sein war so ziemlich das schlimmste Schicksal, das ihm widerfahren konnte. Ihm entging vieles, was ein Leben lebenswert macht. Dazu kam die Sorge um den Lebensunterhalt. Er war auf das Betteln angewiesen. Bartimäus gehörte in jeder Hinsicht zu den Armen dieser Welt.
Bartimäus saß am Ortsausgang von Jericho an der Straße, die nach Jerusalem führt. Für die Pilgergruppen aus Galiläa, die durch das Jordantal kamen, war Jericho die letzte Station auf dem Weg nach Jerusalem.
Seinen Platz an der Straße nach Jerusalem hatte Bartimäus klug gewählt, weil die Pilger an ihm vorübergehen mussten. Außerdem waren die Pilger gehalten, Almosen zu geben.
Aber warum schrie Bartimäus?
Er wollte nicht einfach seine Not hinausschreien; die Pilger hätten sich vermutlich auch nicht sehr beeindrucken lassen. Der Grund, weshalb er schrie, lag tiefer. Er hatte gehört, dass sich Jesus unter den Pilgern befand, die nach Jerusalem zogen. Ganz offensichtlich erkannte Bartimäus, dass Jesus der verheißene Messias war. „Er selbst wird kommen und euch erretten. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet“ so hat ihn der Prophet Jesaja angekündigt. Jesus würde Blinde wieder sehend machen – Bartimäus nahm diese Aussage ganz wörtlich.
Das heutige Evangelium fordert uns auf zu hören. Wie oft erleben wir, dass Menschen in ihrer Not schreien. Überhören wir den Schrei wie die beiden Männer, die Edvard Munch in seinem Bild dargestellt hat? Oder hören wir auf den Schrei wie die Menschen, die sich in der Nähe des Bartimäus befanden? Zwar wurden diese Menschen zunächst ärgerlich und befahlen Bartimäus zu schweigen. Entscheidend ist, dass sie am Ende doch riefen und sagten: „Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich“ Genau dies sollten auch wir den Menschen zurufen, die in Not sind.
Das Bild, das Edvard Munch gemalt hat, ist letztlich deshalb so bedrückend, weil die christliche Perspektive fehlt. Es wäre schön gewesen, wenn er ein weiteres Bild hätte malen können, das den Menschen zeigt, der von Gott angenommen ist. Für uns Christen sollte dies nicht Vision, sondern Realität sein.
Josef Winkler